Humboldt hat ihn nicht gesehen, nur seinen Nebenfluss, den Rio Negro. Und damit bewiesen, dass Schiffsverkehr von Venezuela bis Brasilien möglich wäre. Seine Hoffnung hat sich zerschlagen. Wir aber wollten ihn sehen, den mächtigen Fluss.
Belem
Betlehem, Belem auf portugiesisch hat auch sein Nazareth. Der Stadtteil hat einen Urwald – Palmengarten. Angenehm, auf Wegen durch den Urwald zu laufen, die Krokodile hinter Gittern und nicht hinter der nächsten Wegbiegung. Ganz schön mächtige Tiere, diese Jacarés. 5 m lang war eins. Schnell sind sie, diese Biester, das traut man ihnen gar nicht zu. Wie der Blitz starten sie, zack, hast du ein Bein weniger und er eins mehr. Eine besondere Attraktion war der Peixe-Boi – Fisch-Bulle, den es nur am Amazonas gibt. Einer Seekuh ähnlich ist seine Art 25 Mio. Jahre alt. Typische Vögel, Affen, Panther, Leoparden und ein Becken mit hunderten von jungen Schildkröten gaben einen guten Überblick der Artenvielfalt des Amazonas. Und im anderen Becken, da lagen die Eltern aufeinander. Der Vater war zu faul zum Laufen und die Mutter musste ihn tragen. Oder umgekehrt.
Im Straßenbild von Belem Indianer, sie fallen trotz westlicher Kleidung auf.
Belem liegt am Amazonas-Delta. Der „Herr der Flüsse“ ist der mit Abstand wasserreichste Fluss der Erde und wahrscheinlich der längste (die Berechnungen schwanken). Seit 2001 ist es belegt, die Quelle des Amazonas liegt in Peru zwischen Cusco und Arequipa. 10 000 Flüsse münden in ihn, von den über 1000 größten sind allein 17 länger als der Rhein, 11 davon gehören zu den 20 wasserreichsten Flüssen der Erde. 100 Zuflüsse sind auf brasilianischer Seite schiffbar und der Amazonas selbst ist von der Atlantikküste bis Manaus mit Ozeanschiffen befahrbar. In Brasilien ist der Fluss meist mehrere Kilometer breit, in Zeiten größter Wassermengen kann er die angrenzenden Wälder auf eine Breite bis zu 100 Km überschwemmen. Das Mündungsdelta des Amazonas hat eine Breite von mehreren hundert Kilometern. Man glaubt, es sei das Meer, das andere Ufer ist nicht sichtbar. Und mitten drin eine Insel größer als die Schweiz.
Montag, den 5.5., Belem. Tropenregen. Hitze und Schwüle machen meinen Kopp verwirrt. Hängen rum. Für Mittwoch Schiff nach Manaus gebucht. Offene Decks mit Hängematten. Sind nicht ungefährlich, sagt man uns. M hat die Leica dabei. Heute am Hafen und bei den Markthallen fotografiert. Plötzlich hatten wir gut bewaffnete Begleitung. Ein Polizist blieb neben uns.

Dienstag, den 6.5. Eine blendend weiße mächtige Yacht ankert im Hafen, mit sehr viel Elektronik ausgestattet. Soll 20 Mio. Dollar gekostet haben. Gates haben wir nicht gesehen.
Ganz wundersames Essen gibt es hier, schon die Namen machen Hunger: Piarucu, Tacaca, Tamuatá de Tucupí. Viel wird Maniok benutzt. Diese kartoffelartige Wurzel kommt ja von hier. Ach, und schmecken tut es erst! Wie Urwald.
Donnerstag, den 8.5. 6.00 Uhr. Seit gestern Abend unterwegs auf dem Fluss der Flüsse. Besser gesagt, noch immer in seinem Delta. Über hunderte von Kilometern sind es ganze Systeme von Flüssen, Kanälen, Strömen und Bächen, die den Urwald entwässern. Und seine Majestät Amazonas mitten drin.
Unser Schiff heißt GOLFINHO (Delphin), eines jener typischen Flussdampfer. Es hat zwei Decks, zur Seite hin offene Plattformen und einen dicken Bauch für den Gütertransport. Hier wird alles, was die Menschen brauchen, über den Fluss transportiert.

Die zwei Plattformen haben an der Decke Haken für die Hängematten der Passagier. Dicht an dicht, eine oben, zwei schräg drunter. Wie im Hühnerstall. Platz für 450 Leute, steht am Schiff. Nachts und wenn’s regnet werden an den Seitenwände Planen heruntergelassen, tagsüber hat man eine prima Sicht und eine gute Belüftung. Und den ganzen Tag schaukeln die Leute lässig und zufrieden in ihren Matten.


Um 5.30 Uhr morgens der erste Aufenthalt. Frauen und Kinder in Kanus tauchen neben dem Boot auf. Sie hoffen auf Essen und Kleidung. Die ganze Strecke werden sie da sein, still wartend in ihren schlingernden Einbäumen, dass jemand etwas raus wirft. Dann fischen sie die gut zugebundenen Plastiktüten aus dem Wasser, tanzen in den Wellen, die unser Schiff hinterlässt und bleiben mit ihren hungrigen Blicken zurück. Fahren können sie mit ihren Booten. Sie gleiten und wenden wie Schwimmer in der Brandung.


Ihre Hütten, die ab und an am Ufer auftauchen, sind längliche Bretterverschläge, sie stehen auf Pfählen und haben Türöffnungen und Fenster, die wie Augen in einem Totenschädel aussehen. Morgens schon früh steigt Rauch durch das Palmendach. Der Urwald ist dicht links und rechts. Manchmal auch kleine Ansammlungen von Hütten, alle haben einen Steg oder mindestens einen Baumstamm in den Fluss hinein. Da liegen ihre Einbäume. Es sind Caboclos, Mischlinge von Weißen und Indianer. Wovon leben sie? Vom Fischfang, der Herstellung von Kautschuk, etwas Viehzucht sowie dem Verkauf von Paranüssen (wir sind schließlich im Bundeland Pará) und Früchten auf nahe gelegenen Märkten.

Das untere ist das ärmere Deck. Wie im richtigen Leben. Aber von da aus fliegen die meisten Plastiktüten zu den Kindern mit den großen Augen in den Kanus.
Wir nehmen eine Abkürzung durch einen Kanal. Die ganze pechschwarze Nacht ist er durchgefahren, der Steuermann. Ohne Radar. Nur einen großen Suchscheinwerfer, der vor ihm über die Wasseroberfläche irrt. Gefährlich sind die schwimmenden Inseln, sie können über 100 m lang werden, auch die Baumstämme unter Wasser und die Sandbänke, die immerfort in Bewegung sind, die Fahrrinne verändern.
M: Gestern Abend legten wir in Almeirim an. Natürlich bin ich noch mal aufgestanden, um dem Treiben zuzusehen. Aus unserer Ladeluke holten sie einen ganzen Haushalt – ein Umzug. Sie stellten Stühle, Kommoden, ein Sofa, Tische, einen Kühlschrank und jede Menge Kartons auf den hölzernen schaukelnden Anlegesteg, und da die Abholer noch nicht da waren, schoben sich einige Frauen die Sitzgelegenheiten zu einem Kreis zusammen, setzten sich und plauderten. Es sah aus wie in einem Wohnzimmer, nur die Kaffeetassen fehlten
Freitag, 9.5. 7:00 Uhr morgens. Jetzt sind wir seit 36 Std. unterwegs. Die Hälfe der Strecke haben wir. Gleich kommen wir nach Santarém. Frühaufsteher muss man hier sein. Um 5.00 Uhr schon schimmert die Sonne durch die Plane an der Seite und dann wird sie hoch gerollt. Und das Menschengewimmel in den Hängematten beginnt sich zu regen. Manche haben sich eine Decke über das Gesicht gezogen, manche sind eingerollt wie eine Larve in ihrem Kokon, husten tut’s hier und da, Füße kommen raus und verschlafene Gesichter schauen umher als wollten sie´s noch nicht so richtig glauben, dass der Morgen da ist. Und dann muss man sich anstellen beim Waschen und am Klo. Es gibt nur ein Waschbecken auf jedem Deck und 2 Klos für Männer und 2 Klos für Frauen. Praktisch ist das: man sitzt auf dem Klo und kann sich gleichzeitig duschen. Um ¼ vor 6 knallen die beiden Damen von der Küche eine große Kanne auf den langen Tisch hinten zwischen den Klos, ein Bottich mit Tassen wird auf einen Stuhl gewuchtet. Das Frühstück ist da. Es gibt (wie immer) sehr süße Milch mit einem Hauch Kaffee und trockene Kräcker. Und da es nicht für alle reicht, muss man sich ein wenig drängeln und die Kinder nehmen sich Berge von Kräcker, weil es bis Mittag reichen muss und ob es mittags was gibt ist so sicher nicht. Und dann steh ich mit meiner ergatterten Tasse Milchkaffee an der Rehling und schau auf den frischen Urwald, der im Morgenlicht glitzert und geheimnisvoll strahlt. Lacht er mich an, oder lacht er mich aus? Ach, dem ist das egal. Der ist da und basta. Wir kleinen Menschlein interessieren ihn nicht sonderlich.
Danebenbenommen. Hinten und vorn auf dem Schiff Blechkajüten. Vorne das Ruderhaus, so klein, dass nur der Steuermann darin stehen kann. Dahinter 7 Kabinen 1,80 m lang, 2 m breit, in einer davon wir. Und hinten auf dem Schiff sind die Blechkabinen die Klos die gleichzeitig Duschen sind weil ein Wasserrohr darüber hängt. Ein Verschlag ist die Küche. Zwischen dem Männer- und Frauenklo links und recht ein langer Tisch mit zwei Bänken. In 3 Schichten wird gegessen. Reis und Farofa (Maniok-Mehl) gibt’s immer. Ohne Farofa, sagen sie, ist das Essen nichts. Und dann gibt’s mal Fleisch – mal Hähnchenstücke, auch mal Nudeln und braune Bohnen als Beilage. Wir haben natürlich und vornehm, wie wir sind, Messer und Gabeln benutzt. Bis uns auffiel, dass das nicht die feine amazonische Art ist. Die geht so: Man benutzt als Hauptessinstrument den Löffel. Den greift die Hand von oben im Klammergriff, Daumen zum Löffel hin gestreckt. Der Oberkörper beugt sich über den Teller, mit dem Löffelrand wird alles zerkleinert und hier und da, wenn´s zu zäh ist, darf auch das Messer benutzt werden. Und dann wird geschaufelt, was das Zeug hält. Ja, ja, Sitten!

Links und rechts gleiten die Wände des Urwalds vorbei. M sagt, schrecklich der Gedanke, hier zu kentern. Es stimmt, man käm nicht rein in den Wald. Alles zu. Am Horizont Rauchschwaden. Sie flämmen den Wald ab für Weiden oder Ackerland (Hauptursache der Vernichtung des Amazonaswaldes ist die Fleischproduktion. Rund 70 Prozent des vernichteten Tropenwaldes wurden für Viehweiden gerodet, ein Großteil des Restes für den Futtermittelanbau). Das geht nicht, nein, so kann man diesen Wald nicht behandeln! Er geht dabei gründlich zu Grunde und zwar für immer. Der Regenwald, hat nur wenig fruchtbare Humusschicht auf seinem Boden, er lebt von seinen ausladenden Kronen. Und wenn man die Bäume fällt und den Wald abräumt, dann kann man auf der Krume nur 5 bis 7 Jahre was anbauen. Dann ist der Boden ausgelaugt und steinig und von selbst nicht mehr regenerationsfähig. Das zwingt in einen üblen Kreislauf mit Neurodung, zeitlich begrenztem Anbau, Neurodung. Jede zwei Sekunden wird weltweit ein Fußballfeld an Urwald platt gemacht. Die fortschreitende Rodung der Urwälder verringert die Menge des verdunsteten Wassers, aus dem sich der Fluss speist, und die Symbiosen der Tier- und Pflanzenwelt verlieren ihre Existenzgrundlage. Wenn kein Urwald mehr existiert, müssen wir uns die Luft beim Aldi in Dosen holen. Mac Donalds lässt grüßen. VW übrigens auch. Die sind voll mit dabei bei der landwirtschaftlichen Amazonasnutzung.
Pilzeinschlag. So nutzen die Indianer den Urwald, in unserem Projekt in Ecuador habe ich es gelernt. Eine kreisrunde Fläche von 100 oder 200 m im Durchmesser wird gerodet, darauf bauen sie ihren Mais, die Yuca, die Kräuter, das Gemüse an. Soviel, wie sie brauchen. 5 bis 7 Jahre lang. Und dann ziehen sie weiter. Und der Pilzeinschlag ist exakt so groß, dass alle Bäume und alle Pflanzen zurückkommen können. Auch die großen Bäume und die mit schweren Samen können sich den Lebensraum zurückerobern, den sie brauchen. Ist die Fläche zu groß, die gerodet wurde, schaffen das nur die Pflanzen mit leichtem Flugsamen und die Bäume, die den Tieren ihren Samen mitgeben.
M: Hier redet man viel. Eine junge Frau stellt sich neben mich, sagt, sie hätte geschlafen und dann Lust gehabt, sich zu unterhalten. Und fing an. Sie hat uns eingeladen, wir könnten bei ihr wohnen in Manaus. Sie hätten in ihrem Haus schließlich zwei Zimmer, und die brauchten sie ja gar nicht zu dritt. Als ich ihr erzählte, was wir für ein Hotelzimmer zahlen, meinte sie, damit könnte sie das ganze Schlafzimmer einrichten. Und für drei Übernachtungen wahrscheinlich das ganze Haus.

Samstag, den 10.5. Gestern in Santarem um 5 Uhr nachmittags abgefahren. Um halb 7 auf eine Sandbank aufgelaufen. Es gab einen hellen Schlag, die Antriebswelle zur Schraube hatte sich verbogen. Der Amazonas ist tückisch. Laufend verändert sich sein Untergrund, denn er räumt den Abfall des Urwals ab und befördert Unmengen an Bäumen, Inseln, Geröll, Sand, Steine Richtung Ozean. Die tiefste Stelle, über die wir gefahren sind, war 110 Meter tief und wo eben noch eine Fahrrinne war, ist plötzlich Sand unter der Oberfläche. Und so sind wir aufgelaufen. Und abgetrieben in die Mangroven. Weil der Motor nicht ging, der den Anker runterlässt. Und dann haben sie mit der Hand geleiert wie wild. Und wir hatten nur 1 m unter dem Kiel. Und dann hat der Anker gefasst und wir lagen still, direkt am Urwaldrand. Sie haben versucht, die Antriebswelle zu reparieren. Dann ging´s wieder, aber nur zurück nach Santarem, da wo wir abgefahren waren. Bis 11 Uhr nachts hat die Reparatur gedauert, dann lief zumindest eine Schraube wieder. Unser Schiff, die Golfinho, ist das schnellste traditionelle Schiff auf der Strecke Belém – Manaus. Schafft die 1500 km in 3 Tagen, die anderen benötigen 6. Nun aber ist das Delfinchen angeschlagen und wir wissen nicht, wie lange wir brauchen bis Manaus. Niemand regt sich auf. Niemand. Zeit ist das, was man hat. Angenehm, so zu denken.
Nun sind wir schon ein ganzes Stück den Amazonas rauf und er ist noch immer breit wie ein See. Der Regenwald hat sich verändert. Er ist niedriger, in der Ferne sieht man Berge. Weite Flächen sind überschwemmt. Manchmal sieht man eine Farm.

Samstag, 10.5. Das Leben hier auf dem Dampfer ist schön angenehm und entspannt. Man hat Zeit. Einfach Zeit. Schaukelt in der Hängematte, redet miteinander, schläft, schaut dem Urwald zu, wie er da träge vorbeizieht. Die Ankunft in Manaus war für heute, 18.00 Uhr vorgesehen. Wegen der kaputten Welle kommen wir morgen irgendwann an. Wen juckts, Hauptsache, wir kommen an.

Gestern mussten wir die Uhren um 1 Std. zurückstellen. Wir sind über eine Zeitzone gefahren – mitten in Brasilien. Jetzt geht die Sonne etwas früher unter. (Ja, ja, der Mensch in seinem Wahn : nicht die Sonne geht früher unter, meine Uhr ist verstellt, sonst nichts. Juckt die Sonne aber auch nicht).
M: Heute früh bin ich schon um 5 Uhr aufgestanden, musste auf die Toilette. Die Schlange der wartenden Frauen an der Dusch-Toilette war sehr lang, aber ich wurde sofort gefragt, was ich wollte und dann ließ man mir mit den Worten „die will nur schnell pinkeln“ den Vortritt.
In der Amazonasregion leben etwa 200 000 Angehörige indigener Gruppen. Es sollen ein paar Millionen gewesen sein, bevor der gute Colón Amerika und der gute Vespucci Brasilien entdeckt hat. An unserer Kultur sind die Indianer wie die Fliegen gestorben. An Sklavenarbeit bis zum Krepieren, an Krankheiten, die der weiße Mann mitbrachte und die für die Indianer bis heute tödlich sind, an Menschenjagd, um Platz zu machen für die weißen Herren die die Bodenschätze brauchen und den Reichtum des Waldes. Da haben sie sich zurückgezogen, die Indianer, in unzugängliche Gebiete des Waldes. Es gibt noch immer unentdeckte Stämme. Erst vor Kurzem hat die Indianerbehörde Kontakt aufgenommen mit einem Tribu (Stamm), den keiner kannte. Eigentlich gehört ihnen das Land, worauf sie leben, vom weißen Mann und seiner Regierung zugesagt. Aber dann setzt zu oft das gleiche Spiel ein: zur Ausbeutung des Waldes finden sich Tricks. Gehört habe ich von Häuptlingen mit geschenkten Ghetto Blastern ohne Batterie und Traktoren ohne Diesel.
Es gibt Stämme, da sind die Selbsmordraten unter den Indianer-Jugendlichen so hoch, dass der Fortbestand gefährdet ist. Sie löschen sich selbst aus. Weil sie keine Zukunft sehen. Als Indianer, die sich selbst Menschen nennen.
Sonntag, 11.5., 7 Uhr morgens. 1500 Km sind wir jetzt auf dem Amazonas gefahren. Und bis zur peruanischen und kolumbianischen Grenze ist es noch mal so weit. Aber Amazonas heißt er von hier aus nicht mehr. Oficialmente. Und warum sollte das nicht mehr der Amazonas sein? Ei, weil sich hier bei Manaus zwei Giganten treffen, der hochwürdige Rio Solimoes, der seine Wassermassen aus den Anden Perus herunterwälzt und der dunkel-mächtige Rio Negro aus Venezuela, schwarz wie sein Name sagt. Hier bei Manaus vereinigen sie sich, die beiden Riesen. Aber vereinigen wollen sie sich anfangs nicht. Und so fließen sie Kilometer um Kilometer nebeneinander her, der schwarze Rio Negro und der braune Rio Solimoes. Und dann umarmen sie sich und werden DER FLUSS – Rio Amazonas.
Montag, 12.5. Manaus, Hotel Da Vinci. Was für eine andere Welt! Gestern um kurz nach 8 Uhr vom Schiff in 1 Taxi in 1 Hotel mit 4 Sternen. Luxus. Wir kamen uns fremd vor. Deplaziert. Im falschen Film. Da waren die letzten Tage vier Blechverschläge gewesen, mit Abtritt und darüber das offenen Rohr als Dusche – und das für 200 Leute (unten gab’s nochmals dasselbe) und hier Marmor, Vergrößerungsspiegel mit indirektem Licht im Bad (damit man seine Pickel auch richtig dick sieht) und ein Klo in dunkel gebeiztem Holz für zwei Leute ! Und zwei große Betten. Und Lichter daneben. Und eine Minibar. Und Fernseher mit 13 Programmen. Und Ober, die um einen herumschleichen, ob man noch was will. Und davor? Da gab’s morgens von viertel vor 6 bis viertel nach 6 eine zuckersüße Milch mit einem Hauch Kaffee und einer Handvoll Keks. Wer nicht rechtzeitig kam, kriegte ein goldenes Nixchen und ein silbernes Nautchen. Und mittags und abends Schlange stehen. Platz am langen Tisch ergattern. Und dann knallten die Teller vor einen und dann kamen der Reis und die Nudeln und ein wenig Fleisch und wenn die gut gelaunt waren in der Küche da unten im Heck, dann gab’s auch noch Bohnen dazu. Und einmal waren sie nicht gut gelaunt. Da gab’s nur Bohnen verdünnt und Reste von Nudeln schwammen einsam umher in der Wassersuppe, die schon etwas vergoren war. Und einmal waren sie gar nicht gelaunt und da gab es gar nichts. Und nett war’s. Freundlich und oft fröhlich. Auf diesem überfüllten Schiff, auf dem es nicht eng wurde. Und niemand hat sich beschwert. Und niemand ist unnett geworden. Wir waren eine Familie.
Und hier? Anonymer Luxus. Alles ist da. Wir sind allein zu zweit. Überlegen, ob wir nicht weiterfahren.
Der Regenwald lässt regnen. Gigantische Wassermassen verdampft er in die Luft und dann kriegt er sie wieder auf den Kopf. Das sind dann die berühmten Tropenregen.
Die dunkle Wolkenwand kommt näher, grau-blau-schwarz. Franst nach unten aus. Menschen rennen, suchen einen trockenen Platz. Schon kracht es, Blitz und Donner folgen einander und dann öffnet sich der Himmel. Wasserfälle platschen auf die Erde. Vor den Fenstern und den Dachüberhängen erscheinen Wasservorhänge. Die Schwüle kühlt ein wenig ab. Aber nur so lange der Regen strömt. Und dann ist es wieder vorbei. Die Erde dampft wie eine Sauna und der Zyklus beginnt aufs Neue.
Ich hatte einen kleinen Freund auf der Reise. Er schlief in der Hängematte neben unserer Kabine. Wenn ich in mein Heft geschrieben habe, hat er mit großen Augen zugeschaut. Er konnte seinen Namen schreiben. Luis Henrique. Und war ganz stolz darüber. Oben auf dem Deck, wo die Stühle standen und wir den Sonnenuntergang und die Abendkühle genossen, hat er mich gesucht und unten, bei den anderen Leuten und vorn und hinten um dann mit leuchtenden Augen zu verkünden: te encontré, ich hab dich gefunden. Und manchmal traute sich seine kleine Hand in die meine. Mutter, Großmutter, der Onkel und die Kinder machten die beschwerliche Reise nach Manaus in der Hoffnung, Arbeit zu finden. Luis Henrique hat jetzt mein kleines Messer.

Wie wollten unbedingt mit dem Bus aus der Stadt zum Hotel zurück. Nirgends ein Stadtplan und niemand kannte die Straße. Und ein Bus nach dem anderen mit unbekanntem Namen fuhr an uns vorbei. Ein alter Mann mit einer sichelförmigen Narbe auf der Backe erinnert sich : ja, ihr müsst den 113 nehmen. Jawoll, sagt der Kassierer im Bus, zu der Straße fahren wir und ich sage Bescheid. Und dann wird die Straße immer schlechter und die Gegend immer wüster und die Menschen immer ärmlicher. Und uns wird es immer schwummriger. M. hatte die Leica unterm Arm. Und dann sagt der Fahrer hier ist es und dann sagt M., hier steige ich nicht aus und dann fragt der Kassierer die Leute, aber es konnte einfach nicht sein, dass in dieser Gegend ein Hotel steht. Wir haben ein wenig gezittert und mussten dann doch aussteigen, Endhaltestelle. Und sie haben uns alle freundlich zugewinkt und den Daumen hochgehalten und “wird schon” gesagt und da drüben geht’s weiter. Und dann kam ein Taxi und das hat uns quer durch die Stadt zurückgebracht zum Hotel in die Straße mit dem gleichen Namen. Es gab zwei davon. Wir brauchten einen Schnaps.
Mittwoch 14.5. Flughafen Manaus. Um 6 Uhr sind schon viele Leute unterwegs. Unser Taxifahrer hatte bei Senna gelernt, dem berühmten brasilianischen Rennfahrer, der gegen eine Mauer fuhr. Mein Taschenmesser wird vom Sicherheitsbeamten als Waffe eingestuft. Es darf nicht mit mir ins Flugzeug.Donnerstag. Kurz vor 8 Uhr morgens Bogotá. Da sind wir wieder in der kalten Stadt an dem Abhang der Anden, da, wo es zum Urwald runtergeht. Die Reise durch den Urwald ist zu Ende. Gestern sind wir von Manaus nach Tabatinga geflogen. Das ist ein verlorener Ort mitten im Urwald und zwar da, wo sich die Grenzen treffen von Peru, Kolumbien und Brasilien. Auf der kolumbianischen Seite heißt der Ort einfach anders und zwar Leticia, obwohl es derselbe ist. Wir sind mit dem Taxi rüber. Aber eine Grenze mit Schlagbaum und Grenzer, die gab es da nicht. Irgendwann fand ich die Reklame am Straßenrand komisch geschrieben. Ach, da waren wir wieder im Spanischen und in Kolumbien. Die Stempel der Ausreise aus Brasilien und der Einreise nach Kolumbien muss man sich irgendwo holen. Der Taxifahrer war der letzte nette Brasilianer auf der Reise, das Taxi ein alter VW, der in Schlangenlinien den Schlaglöchern ausweicht. Wobei die alte Klapperkiste mehr dem eigenen Willen als dem seines Fahrers gehorcht. Aber irgendwann tauchte dann doch der kleine Flughafen auf. Und mit dem alten Wagen und dem netten jungen Mann darin haben wir Abschied genommen von Brasilien. Dem Land unserer Liebe. Hauptsächlich deshalb, weil die Menschen so nett sind. So menschlich. Auf den anderen Menschen bezogen, für ihn mitdenkend. Und lieb und freundlich, oft strahlend. Meist stressfrei. Und wenn Probleme auftauchten, dann haben sie sehr oft ihren Daumen gehoben und tudo bem gesagt und versucht, den Konflikt im Keim zu ersticken. Obwohl, da sind auch die vielen Verbrechen und da ist auch die soziale Ungerechtigkeit. Die vielen armen Leute, die Kinder, die arbeiten müssen, damit die Familie überhaupt überleben kann. Ja, das ist auch da. Das darf man nicht übersehen. Auch das hat mir imponiert, wenn die Leute sagten, jawoll, das finden wir schlimm. Und wenn man genug darüber geredet hatte über das Allgemeine und Schlechte und so, dann kam das Persönliche. Dann wurde was Nettes, was Positives gesucht. Denn selbst leben, das ist ganz, ganz wichtig. Das hab ich gelernt. Theoretisch.
Kann man Liebe erklären. M sagt, sie glaubt, in einem früheren Leben sei sie Brasilianerin gewesen. Das drückt es genau aus, das Gefühl, da sei es eher möglich, sein eigenes Leben zu leben.
Heute, im März 2024 liest sich diese Reisebeschreibung wie ein phantastisch verklärtes Märchen, auch wenn es schon Vorzeichen für eine drohende Katastrophe gab. Die Menschen waren arm, der Urwald brannte an vielen Stellen, aber das ganze Ausmaß der Umweltzerstörung und des damit verbundenen Elends war nicht vorstellbar.

Tolles Abenteuer – toller Bericht!
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Danke. War auch außergewöhnlich. Wir haben viel zu erzählen
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