Nicht nur, dass wir unseren Wohlstand auf Kosten der Menschen in den Niedriglohnländern selbstverständlich genießen. Nein, hinzu kommt noch, dass alles und jedes schneller, immer schneller funktionieren muss. Wollen wir das? Sind das die Erdbeeren zu Weihnachten wert?
Globalisierung: Unser schicker Kapitalismus mit tödlichem Antlitz | ZEIT ONLINE
https://www.zeit.de/kultur/2020-04/globalisierung-china-coronavirus-eugen-ruge
Das schreibt der Ruge: Auslagerung der Produktion ist für das Kapital deshalb eine Option, weil diese Auslagerung unglaubliche Profite bringt – allerdings auf Kosten der anderen. Unternehmen lagern Produktion aus, weil die Näherin in Äthiopien für 1,50 Dollar am Tag näht, weil Arbeitsschutzvorschriften in Pakistan nicht eingehalten werden müssen, weil Umweltvorschriften in China umgangen werden können. Darunter leiden Menschen, egal ob Chinesen, Pakistani oder Afrikaner. Der Sinn der Globalisierung besteht ja – aus der Perspektive des Profits – gerade darin, die Produktion in Länder zu verlagern, in denen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur ohne allzu große staatliche Behinderung stattfinden kann, aus welchen Gründen auch immer. Sie zielt geradezu auf Staaten, die auf diese oder jene Weise die Sorge um Mensch und Umwelt vernachlässigen oder vernachlässigen müssen. Und auch wenn ganz große Gewinnmargen an Fonds, Manager und dubiose Zwischenhändler gehen, muss man sagen, dass unser sogenannter Wohlstand zumindest zu einem Teil auf brutaler Ausbeutung und Umweltzerstörung beruht – ein Wohlstand, der übrigens auch nur bei einer Hälfte der Bevölkerung ankommt: bei der oberen.
Für diesen Bruchteil der Menschheit werden täglich Millionen Tonnen an Waren durch die Welt geschippert – dafür dass diese kleine Gruppe immer alles sofort zur Verfügung hat, ob Erdbeeren zu Weihnachten, Wein aus Südafrika oder Datenzugriff noch im letzten Winkel, in dem sie Urlaub zu machen wünscht; für ihren Zweitwohnsitz in der Bretagne, für die Server auf denen sie Milliarden sinnloser Fotos deponiert. Dafür arbeitet die Näherin in Äthiopien, aber auch bei uns der Erntehelfer aus Rumänien, der Bauarbeiter aus Polen oder die 24-Stunden-Pflegekraft aus Bulgarien. Und sie dürfen noch froh sein, dass sie überhaupt bei uns arbeiten dürfen, dass sie nicht in Dürregebieten leben müssen oder jenen Kriegen ausgesetzt sind, die auch wegen der wirtschaftlichen Interessen des Westens geführt werden. Schlimmstenfalls sind wir noch stolz darauf, dass wir sie hereinlassen und in den Dienst stellen.
Und:…. Die große Flüchtlingskrise von 2015 war ein Vorschein dessen, was die Welt in der Zukunft erwarten könnte. Covid-19 ist eine kleine Erweiterung dieser Perspektive. Die Kosten der Globalisierung haben bisher immer die Ärmsten getragen. Die Katastrophen fanden immer woanders statt. Dass die Folgen unserer Wirtschaftsweise nun allmählich und, seien wir ehrlich, in noch abgemilderter Form auf uns zurückkommen, ist nur folgerichtig. Wenngleich hierbei von Gerechtigkeit nicht die Rede sein kann, denn auch dieses Mal wird die Krise wieder die Ärmsten am stärksten treffen
Reinhold, sehr gut !!
Tja, er hat ja so Recht, der Ruge. Es ist dieser Scheiß-Kapitalismus, der so Viele ausbeutet und so Vieles zerstört: die Umwelt, die Tiere, die Pflanzen, die Seelen der Menschen….
Ich habe ihn schon immer gehasst, hasse ihn immer noch und habe doch extrem davon profitiert – wie viele in Deutschland (sicherlich nicht alle!). Interessanterweise profitieren auch manche vormals extrem Ausgebeuteten davon – z. B. inzwischen viele Chinesen und viele Bewohner anderer asiatischer Staaten. Nachdem sie zunächst unter dem europäisch-amerikanischen Kolonialismus, dann unter Maos Kommunismus und schließlich unter dem chinesischen Staatskapitalismus / „kapitalistischen Kommunismus“ (??) / „kommunistischen Kapitalismus“ (??) extrem gelitten hatten, haben inzwischen Millionen Chinesen und Millionen anderer Asiaten einen (zumindest bescheidenen) Wohlstand erreicht. Ich fürchte, Viele werden dieses kapitalistische System den bisher durchlebten / durchlittenen Systemen vorziehen – trotz aller unbestreitbaren Nachteile.
Und das ist für mich die Krux an den „System-Diskussionen“: wir haben kein gutes Beispiel, wo Menschen die freie Wahl zwischen verschiedenen Systemen haben und sich dann gegen den Kapitalismus entscheiden. Falls es doch einmal geschieht (wie z.B. seit den 50ern in Kuba mit Fidel Castro und Che Guevara) wird es von außen und von innen so sehr bedroht, dass es letztlich zusammen bricht (zusammenbrechen wird) und der Kapitalismus es sich wieder einverleibt / einverleiben wird. Außer frühe, archaische Systeme oder dem Feudalismus (den sich sicherlich niemand zurückwünscht) gibt es nach meinen Kenntnissen kein funktionierendes (nicht-kapitalistisches) Wirtschaftssystem, das in einem nationalen oder globalen Rahmen erfolgreich ist (auf ganz lokaler Ebene mag es Kleinst-Initiativen geben, die in Harmonie mit der Umwelt und mit ihren Wünschen und Ansprüchen leben – aber auf größerer Ebene und bei Erfahrungen außerhalb eines doch oft sehr beschränkten Horizonts, lässt sich ein solches System meist nicht aufrecht erhalten).
Ich denke, wir dürfen auch nicht verkennen, dass die 1,50 $ / Stunde, die die äthiopische Näherin erhält, für sie durchaus attraktiv sein können, weil sie damit mehr als 90% ihrer Landsleute verdienen kann. Das größte Problem dabei ist nicht unbedingt der für europäische Verhältnisse niedrige Stundenlohn sondern die Verletzung aller Sicherheitsrichtlinien, Umweltstandards und Menschenrechte. Hier können wir in Europa (und Amerika) durchaus aktiv als Konsumenten etwas tun und Produkte boykottieren, die diese Mindeststandards nicht erfüllen. Es gibt dabei auch immer wieder kleine Erfolge – aber es machen noch immer zu Wenige mit. Der billige Einkauf ist immer noch viel wichtiger als der Kauf von fair gehandelten Produkten (die oftmals nicht viel teuerer sind aber für die Produzenten in der dritten Welt schon zu deutlichen Verbesserungen führen).
Abgesehen von diesen kleinen Schritten würde ich durchaus eine Änderung des Systems begrüßen und auch gerne mitmachen – aber haben wir wirklich realistische Alternativen, die nicht nur eine utopische Idee verfolgen oder den „Himmel auf die Erde“ holen wollen und die dann am Ende zu schlimmerer Ausbeutung oder diktatorischer Überwachung führen? Vielleicht helfen uns nur die kleinen Schritte innerhalb des (besch…) Systems weiter, um so das Leben von mehr und mehr Menschen erträglicher zu gestalten…
Lieber Friedemann, das ist in der Tat ein Thema von großer Tragweite: wie gut ist Kapitalismus. Er ist wohl, wie die Demokratie, ein System mit vielen Facetten und Entwicklungsmöglichkeiten. Demokratie ist sicher nicht die beste Regierungsform die wir uns vorstellen können, wir haben allerdings über die Zeit gute Erfahrungen mit ihr gemacht. So auch mit dem Kapitalismus. Über die Zeit hat er gute ökonomische Ergebnisse erbracht. Für viele. Das gilt für China aber auch für Afrika und Lateinamerika. Asien sowieso.
Doch der Kapitalismus ist nicht überall gleich. Und er wandelt sich. China hat es geschafft, einen zentral regierten Staat mit diesem Wirtschaftssystem zu verbinden. Wie sie das machen, weiß ich immer noch nicht so genau. Aber es geht und hat gewisse Sympathien meinerseits. Siehe Corona Krise.
Wir hatten auch mal ein anderes kapitalistisches Wirtschaftssystem. Die soziale Marktwirtschaft. Auch der rheinische Kapitalismus genannt. Er beruht darauf, jeden was vom Kuchen abzugeben. Leve un leve losse. Bis Thatcher, Reagan, Schröder, Blair kamen. Bis dato war der Staat ein wichtiger Agent, nun sollte er nach der Theorie fast verschwinden aus dem Wirtschaftgefüge. Und seine Schätze privatisieren. Friedmann und Konsorten hatten es in Chile vorgemacht. Fast alles, vom öffentlichen Verkehr bis zum Krankenhaus war danach in privater Hand. Und weil es Gewinn einbringen musste, teuer. Der Mittelstand verschwand, immer mehr Menschen wurden am. Doch die Wirtschaft boomte. Ungefähr hier wurde der Paradigmawechsel gesellschaftsfähig (Friedmann erhielt den Nobelpreis). Doch immer mehr Menschen in Chile ging es schlechter. Das neue Paradigma hieß: Priorität der Wirtschaft um jeden Preis. Seitdem haben wir ihn wieder, den Manchesterkapitalismus. Denn wir überwunden glaubten. Wenn der Gewinn oberste Priorität im ökonomischen Gefüge hat, werden alle sozialen Belange untergeordnet. Krankenhäuser sind für mich das beste Beispiel. Wie kann man mit der Gesundheit von Menschen Gewinn machen wollen? Ich stehe fassungslos davor. Maximierung um jeden Preis folgt umgehend. VW musste unbedingt der weltweit größte Player werden und begann, die Abgase zu manipulieren. Größer werden war wichtiger als Gesundheit oder gar Ehrlichkeit. Der entfesselte Kapitalismus mit wenig staatlichen Regelungen und immerwährender Unterstützung durch die Regierenden falls mal was gegen die Wand gefahren wurde, sind seither dominant.
Lieber Friedemann, ich schreib im Blog weiter. Das ist ein eigener Artikel. Gruß R