Ich stamme aus einer Familie, in der es außer uns drei Schwestern keine Kinder gab. Keine Cousins, nur unsere Kleinfamilie. Um es vorsichtig auszudrücken – wir waren keine Wunschkinder. Zuerst Zwillinge kurz nach dem Krieg in einer Flüchtlingsunterkunft, 2 Jahre danach noch eine, die ebenfalls nicht erwünscht war. Meine Mutter stand dazu: sie mochte keine Kinder. Umarmungen, Zärtlichkeiten wehrte sie ab, wenn meine Zwillingsschwester einmal so etwas versuchte und sich auf ihren Schoß setzte, ich traute mich das gar nicht.
Mein Vater war durch seine Kriegserlebnisse ( er war über London abgeschossen worden und hatte nur knapp überlebt, er war in Lappland als Rettungssanitäter und ist drei Wochen zu Fuß vor den Russen geflohen) traumatisiert und mit seiner Familie überfordert. Er musste morgens und abends mit Fahrrad und Bahn je 2 Stunden nach Frankfurt fahren, um eine Kaufmannslehre bei einer Lebensversicherung zu machen. Er hatte Medizin studiert und konnte das Studium wegen seiner Gefangenschaft und der Kinder nicht abschließen. Mein Vater hat uns von klein auf über das 3. Reich berichtet, und wie er schon als Schüler die drohende Gefahr gespürt hat, die Verfolgung Andersdenkender und Juden , den Schock der Reichskristallnacht. Er hat sich durch seine Opposition zum Nationalsozialismus viele Nachteile eingehandelt. Er sprach mit mir über Humanismus und wie wichtig Mitmenschlichkeit und Anstand ist und hat uns mit unterschiedlichem Erfolg schulisch gefördert.
Er war nicht mehr stressfähig und ist beim geringsten Anlass ausgerastet. Meine Mutter war frustriert und depressiv. Beide haben uns, manchmal aus für uns nicht verständlichen Gründen schwer misshandelt. Meistens benutzten sie dazu Kochlöffel, mit denen sie uns überall hin schlugen. Mein Vater war nicht mehr zu bremsen, er schlug und schlug und trat. Wenn es zu schlimm wurde, ging meine Mutter aus dem Zimmer, manchmal sagte sie auch „Helmut, jetzt ist es aber genug,“ Wir hatten oft blaue Flecken und offene Striemen an den Armen und Oberschenkeln.
Als ich dann mit 20 meinen ersten Sohn bekam, hatte ich von Babys und Erziehung keine Ahnung. Die Bücher, meine Mutter und meine Schwiegermutter rieten mir, das Baby nachts schreien zu lassen und es nach der Uhr zu füttern. Und nicht herumtragen, wenn es weint! Das Wichtigste war, es nicht zu verwöhnen. Ich habe es dann allerdings doch öfter in die Arme genommen und mit ihm geschmust, denn mein damaliger Mann machte sich über meine „Affenliebe“ lustig.
Als der Kleine drei Jahre alt war und in die „Trotzphase“ kam, fiel mir manchmal nicht anderes ein, als ihn zu schlagen. Ich versuchte es erst mit Erklären und Bitten, aber irgendwann ist mir dann der Kragen geplatzt (z.B. im Supermarkt). Es tat mir hinterher Leid und ich habe mich bei ihm entschuldigt, aber es ist passiert.
Erziehung ist ein Lernprozess auch für die Eltern und ich habe mich geändert. Heute haben mein Sohn und ich eine liebevolle und respektvolle Beziehung zueinander.
Das war die lange Einleitung. Warum ich gerade jetzt über das Thema schreibe? Ich bin mit der Familie meines Sohnes zusammen und vergleiche.
Ich habe einen sehr guten Artikel über Erziehung von Gudrun Halbrock gelesen:
Je mehr Sie in der Erziehung falsch machen, desto mehr Stress haben Sie! Zum Beispiel die Kämpfe im Supermarkt: Wenn das Kind Sachen in den Einkaufswagen tut und auf dem Kauf besteht, weil es die Mutter nicht respektiert und kein Nein toleriert. Manche Kinder werden heute verwöhnt. Sie kriegen alles, was sie wollen. Kleine Kinder erpressen die Erwachsenen regelrecht, indem sie sich auf den Boden werfen oder schreien, um ihr Ziel zu erreichen. In der Pubertät lassen sich die Kinder ohnehin nichts mehr gefallen. Darum ist es wichtig, dass Kinder frühzeitig ein angemessenes Verhalten lernen. Ein Kind kann man mit logischen Argumenten überzeugen: Wenn du trödelst und deine Hausaufgaben nicht machst, bleibt später keine Zeit, um noch eine Geschichte vorzulesen. Es geht um sinnvolle, angemessene Konsequenzen, die sich auch durchsetzen lassen. Und wenn ich das gut mache als Eltern, dann wird das belohnt. Ein Nicht-Kümmern hingegen hat negative Konsequenzen. Kinder müssen ermutigt werden, aber sie brauchen Regeln. Sie zu verwöhnen und ihnen alles recht zu machen, wie das gerade in den ersten Lebensjahren oft gemacht wird, ist auch verkehrt. Spätestens in der Pubertät merken die Eltern, dass ihr Kind tut, was es will. Aber dann ist es zu spät, um Regeln einzuführen und Kinder Verantwortung übernehmen zu lassen. Eltern müssen Orientierung geben und zwar rechtzeitig.
Ich finde es zum Beispiel sehr wichtig, dass einmal in der Woche der Familienrat abgehalten wird. Dabei sagt zunächst jeder jedem etwas Gutes. Anschließend dürfen Probleme geäußert werden – aber als Ich-Botschaften: Ich nehme es so wahr, ich würde mir wünschen, dass … Anschließend werden gemeinsam Lösungen gesucht, die für eine Woche gelten, wie Ämter im gemeinsamen Haushalt. Außerdem empfehle ich ein Gute-Nacht-Ritual. Vor dem Einschlafen sollte man mit dem Kind besprechen: Was war heute ein schönes Erlebnis für dich, und was war schwierig? Dabei berichten auch die Mutter oder der Vater von sich. So wird das Vertrauensverhältnis gestärkt.
Gudrun Halbrock hat auch eine Webseite und einige Bücher geschrieben. Sehr empfehlenswert!
Liebe Marianne, danke für Deine Offenheit, mit der Du Deine Erinnerungen mit uns teilst. Ich fühle sehr mit Dir! Man kann aus der Vergangenheit nur lernen und die Ansätze, die Du beschreibst für den Umgang zwischen Eltern und Kindern finde ich sehr gut.
Danke dir für deine mitfühlende Antwort. Der Spagat zwischen Kinder stark und glücklich machen und ihnen Regeln geben und durchsetzen ist nicht einfach, überall sind Fallstricke und Eltern sind auch Menschen mit Gefühlsschwankungen . Aber wenn grundsätzlich Liebe und gegenseitiges Wohlwollen in der Familie herrschen, kann es klappen.
Ich freue mich von dir zu hören Marianne! Als ihr noch in Bonn- Gleuel gelebt habt, hatten wir relativ viel Kontakt aber von meinem Gefühl her, sind wir uns nicht näher gekommen, weil ich in dieser Zeit nichts von dir erfahren habe. Nun, mit den erneuten Kontakten mit Reinhold, warst du immer mit auf dem Bild aber ohne ein Wort von dir und jedes mal kam mir der Gedanke, das ich dich nicht kenne. Jetzt erzählst du von deinen Eltern und der Erziehung deiner Kinder. Ich bin überrascht! Diese Themen gehören zu den wichtigsten eines Jeden von uns. Womit habe ich dieses Vertrauen verdient?
Und ja, die Beschreibung deiner frühen Familiensituation treiben mir die Tränen in die Augen. Mein Gott, welche gequälten Seelen müssen deine Eltern gewesen sein, um so zu handeln.
Noch eine kleine Anekdote zur Erziehung . Claudia und ich mit unser Sohn im Supermarkt. Claudia voraus , Andreas hinter ihr her und ich folge in einem Abstand. Andreas will eine Süßigkeit und quengelt beständig. Von Claudia keine Reaktion ! Also schmeißt er sich auf den Boden und schreit aus vollem Hals. Claudia verschwindet im nächsten Gang. Andreas schaut verdutzt – mich hat er nicht gesehen – stellt das Schreien ein , steht auf und läuft unbefangen weiter, so als ob diese Szene nie stattgefunden hätte. Er hat dieses Verhalten nie wieder gezeigt.
Toll, aber Claudia musste erst mal den Mut aufbringen, ihr Kind schreien zu lassen. In Deutschland fallen alle mit guten Ratschlägen über dich her!
Bezüglich des Blog halte ich mich im Hintergrund, aber wir besprechen die Texte meist gemeinsam. Über meine Kindheit und meinen Werdegang schreibe ich nicht, weil mich die Erinnerung daran emotional so fertig macht, dass ich die „alten Geschichten“ nicht mehr aufwühlen will. Ich bin froh, dass es vorbei ist und dass ich mit mir einigermaßen im Reinen bin. Und dass ich seit 42 Jahren mit Reinhold zusammen bin, der mir gut tut.